Zurück

Medizinische Untersuchungen bei Menschen mit Beeinträchtigung

Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und seltenen Erkrankungen bilden für die Medizin eine grosse Herausforderung. Dr. med. Thomas Dorn erläutert, wo die grössten Lücken bestehen und welche Massnahmen nötig sind, um die Versorgung zu verbessern.

Thomas Dorn, wir haben in der Schweiz insgesamt eine gute medizinische Versorgung. Wird sie aber den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung oder seltenen Erkrankungen gerecht?

Während wir in der Schweiz puncto apparativ-technischer Diagnose- und Therapieverfahren besonders bei akuten Erkrankungen sicher gut aufgestellt sind, ist die Medizin für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen bzw. seltenen Erkrankungen nicht auf dem Niveau, das in anderen mittel- oder nordeuropäischen Ländern bereits erreicht wurde. Sie stellen bereits den Bezug zwischen intellektuellen Entwicklungsstörungen zu seltenen Erkrankungen her, das geschieht nicht oft.

Es fehlt am nötigen Fachwissen, um Menschen mit Beeinträchtigung zu behandeln

Warum nicht? Was verbindet die beiden Patientengruppen miteinander?

In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden dank moderner genetischer Verfahren erhebliche Fortschritte in der Diagnostik genetischer Erkrankungen gemacht – bei den meisten davon handelt es sich um sogenannte seltene Erkrankungen, d.h. sie betreffen weniger als 1 von 2000 Personen. Da das Gehirn als kompliziertestes menschliches Organ für seine Entwicklung sehr viele Gene benötigt, treten bei sehr vielen dieser seltenen genetischen Erkrankungen auch neurologische Symptome wie motorische Behinderungen, epileptische Anfälle und eben auch intellektuelle Entwicklungsstörungen auf.

Weil man viele Gene, die für die meist komplexen Störungs- und Krankheitsbilder verantwortlich sind, identifizieren konnte, verbesserte sich zugleich das Verständnis dafür, wie die verschiedenen und vielfältigen Symptome entstehen. Dabei ergaben sich bei einigen seltenen Erkrankungen auch verbesserte Therapieansätze. Diese gehen über die blosse Behandlung einzelner Symptome heraus und können das gesamte Krankheitsbild abmildern – insbesondere dann, wenn man schon sehr früh, in der Kindheit, mit solchen Therapien beginnen kann.

Das ist ein grosser Erfolg auch für die Medizin, doch wo liegt nun das Problem in Bezug auf intellektuelle Entwicklungsstörungen und seltenen Krankheiten?

An folgender Situation: Seit vielen Jahren gibt es nun in der Schweiz eine von Betroffenen,Angehörigen und  Ärzt(inn)en getragene «Bewegung», die sich in Gestalt diverser Organisationen für die Bedürfnisse der von seltenen Erkrankungen  Betroffenen einsetzt, wobei es vor allem um Kinder und Jugendliche geht. Diese politisch sehr wirksamen Bemühungen mündeten 2021 zu einer gesetzlichen Grundlage zur Sicherstellung der Versorgung im Bereich seltene Krankheiten. Obwohl aus den entsprechenden Dokumenten auf der Website des Bundesrates deutlich wird, dass die medizinischen und sozialen Herausforderungen für Betroffene von seltenen Erkrankungen denen von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen sehr ähnlich sind, spielen Letztere – insbesondere, wenn sie bereits erwachsen sind — im öffentlichen und politischen Diskurs leider (noch) keine Rolle.

Was sind die grössten Probleme, die sich für diese Betroffenen und deren Angehörige im Kontakt mit Ärzten/Ärztinnen stellen?

In erster Linie fehlt es in der breiten Ärzteschaft häufig am nötigen Fachwissen puncto Medizin für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen. Die oben erwähnten Fortschritte in der Medizinischen Genetik sind v.a. in der Erwachsenenmedizin weniger bekannt. Zu oft liest man in Arztbriefen immer noch Diagnosen wie «geistige Behinderung bei frühkindlicher Hirnschädigung», was auf diese Wissensdefizite hinweist und dazu führt, dass die für Diagnose und Therapie wichtige Frage nach der Ursache einer intellektuellen Entwicklungsstörung nicht gestellt wird. Dabei haben Betroffene ein Recht darauf, dass nach den Ursachen geforscht wird. Für die Behandlung ist das zentral. Man kann mit Kenntnis der Ursache präventiv wirken, um auf Komplikationen und Zusatzerkrankungen zu reagieren, die aufgrund der Ursache zu erwarten sind, oder bei – allerdings nur ganz wenigen – genetischen Syndromen mit modernen Therapien den Verlauf abzumildern Zudem kann eine Beeinträchtigung besser in die Lebensgeschichte eingeordnet und verarbeitet werden. All dies wird bereits in der ersten Fassung der Richtlinen «Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) postuliert.

Sehen Sie noch weitere Lücken in der Versorgung von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen? 

Es braucht die Fähigkeit, mit Patientinnen und Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung in Kontakt treten und sie gründlich untersuchen zu können. Diese Fertigkeiten können nicht theoretisch, sondern nur im Rahmen der praktischen Arbeit erworben werden. Es braucht auch die Bereitschaft und das Interesse, sich mit einem umfangreichen Patientendossier zu befassen. Leider wird die dafür nötige zeitaufwendige und höchst anspruchsvolle «Arbeit in Abwesenheit des Patienten» im aktuellen Tarifsystem für ambulante ärztliche Leistungen nicht angemessen vergütet. Schliesslich ist zu bemerken, dass die Angebote der in der Schweiz früher auch und v.a. für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen zuständigen Epilepsiekliniken mit ihrer neurologischen bzw. neuropsychiatrischen Expertise leider nicht so im ambulanten und stationären Sektor weiterentwickelt wurden, wie dies dem wissenschaftlichen Fortschritt entspricht. In anderen Ländern wie z.B. in Deutschland hat man indessen entsprechende Angebote in Epilepsiekliniken ausgebaut und weiterentwickelt. Diese Lücke in der Schweiz versuchen nun psychiatrische Kliniken mit speziellen multidisziplinären medizinischen Angeboten zu schliessen. Ob man damit allerdings die Belange aller Betroffenen und ihrer Angehörigen abdecken kann, ist zumindest dann fraglich, wenn psychiatrische Aspekte keine Rolle spielen bzw. komplexe epileptologische Fragestellungen im Vordergrund stehen.

Was sind Voraussetzungen für eine zeitgemässe und bedürfnisgerechte medizinische Behandlung von Menschen mit Behinderung?

Zunächst braucht es Richtlinien zur notwendigen Diagnostik bei Verdacht auf eine intellektuelle Entwicklungsstörung. Dabei geht es neben der genauen Abklärung der Ursache vor allem um die genaue Erfassung und Beschreibung des Störungsbildes, um besser zu erkennen, wo es Defizite, aber auch, wo es Ressourcen gibt.

Was heisst das konkret?

Jeder Mensch ist anders. So ist auch jeder Patient mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung individuell zu betrachten und seine Stärken und Schwächen genau zu erfassen. Allfällige Verhaltensauffälligkeiten müssen hinsichtlich ihrer Entstehung genau analysiert werden. Es geht darum, die meist komplexe Verschränkung zwischen Umfeldfaktoren und den Einflüssen der zugrundeliegenden Erkrankung möglichst gut zu verstehen. Zudem darf man chronische Schmerzen oder eine andere somatische Begleiterkrankung als Mitursache nicht übersehen. Wichtig ist auch die sorgfältige Erfassung neurologischer Begleitsymptome und ‑Erkrankungen. Liegt eine Epilepsie vor, sind die Anfälle genauer zu beschreiben und von anderen anfallsartig auftretenden Symptomen (z.B. Synkopen, Stereotypien) zu unterscheiden. Allenfalls vorhandene Störungen der Motorik (Lähmungen, Spastik, Koordinations- und Bewegungsstörungen) müssen ebenso wie Störungen des Hörens und des Sehens erkannt und benannt werden. Nur so kann eine angemessene Unterstützung und Förderung etabliert werden. Auf diesen Erkenntnissen bauen dann die entsprechenden Behandlungen auf, für die es auch Richtlinien braucht.

Sie sind Vorstandsmitglied im Verband SSHID. Was trägt Ihr Verband zur Verbesserung der Versorgung bei?

Wir widmen uns seit einiger Zeit sehr intensiv der Erarbeitung solcher Diagnose- und Therapiestandards und versuchen, Erkenntnisse aus der Wissenschaft sowie das vielfältige Wissen und die Erfahrung unserer Mitglieder zu bündeln, damit schliesslich entsprechende Richtlinien formuliert werden können. Diese sollen sich dann auch bei der Weiterentwicklung der Tarife für medizinische Leistungen im ambulanten und stationären Bereich auswirken. Parallel dazu entwickelt die SSHID ein Curriculum für Ärztinnen und Ärzte, die sich intensiver oder hauptsächlich mit Diagnostik und Therapie bei Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung widmen wollen.

Sind mit solchen Standards, einem Curriculum für Ärzt*innen sowie den entsprechenden Tarifkategorien die Lücken gefüllt?

Es sind erste Schritte. Es ist auch zu wünschen, dass die universitäre Medizin in der Schweiz deutlich stärker als bisher z.B. in Genf endlich Bedeutung und Potenzial dieser Sparte der Medizin erkennt, sich entsprechenden wissenschaftlichen Fragestellungen widmet und auch in der Lehre für alle Ärzte relevante Inhalte vermittelt. Denn es braucht nicht nur Spezialistinnen und Spezialisten in spezialisierten ambulanten und stationären Angeboten. Auch in Arztpraxen und Spitälern, die nicht vornehmlich Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung behandeln, sollte ein gewisses Mass an Wissen und Erfahrung dazu vorhanden sein. Die Operation eines Leistenbruchs sollte an jedem Spital, das diesen Eingriff durchführt, auch bei einem Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung vorzugsweise in enger Abstimmung mit den involvierten Spezialistinnen und Spezialisten möglich sein.

Was unterstützt für einen erfolgreichen Arztbesuch, eine erfolgreiche Behandlung?

Betroffenen bzw. die Angehörigen sollten auf jeden Fall darauf hinwirken, dass sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte ausreichend Zeit für die Anamneseerhebung und die Untersuchung nehmen. Hilfreich – und angesichts der ja regelmässig zu knappen Zeit eigentlich notwendig ist, dass die Angehörigen selbst sämtliche Arztbriefe und Unterlagen am besten in einem Ordner in chronologischer Reihenfolge ablegen und bei jeder Konsultation mit sich führen. Und abgesehen von bestimmten Situationen haben Patientinnen und Patienten die freie Arztwahl. Auch von diesem Recht kann natürlich Gebrauch gemacht werden, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ärztlicherseits nicht die gebotene Sorgfalt und Gründlichkeit vorhanden waren.

Konkrete Symptome schildern, Angaben zum Schmerzempfinden machen – genau das können Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung vielfach nicht. Auch ist schwierig zu beurteilen, was im Sinne der Betroffenen am meisten zur Lebensqualität beiträgt. Wie kann die Würde eines Patienten dennoch bewahrt werden?

Entsprechendes Wissen und Erfahrung sowie ausreichend Zeit der betreuenden Ärztinnen und Ärzte sind die wichtigsten Voraussetzungen, die Lebensqualität von Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung zu verbessern und deren Würde zu bewahren.

Menschen mit geistiger Behinderung sind, wenn sie älter werden, stärker von „Frailty“ betroffen als andere Menschen. Das heisst, sie sind zu einem früheren Zeitpunkt und in grösserem Ausmass gebrechlich und verletzlich. Das sind die Gründe für diese frühe Verletzlichkeit und das heisst es für die Behandlung?

Die Gründe für die grössere Gebrechlichkeit im Alter von Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung sind vielfältig. Anbei ein paar Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Bei einer Trisomie 21 kommt es häufiger und auch früher zu einer Demenz als bei Menschen ohne diese chromosomale Anomalie. Motorische Funktionsstörungen führen häufiger zu Stürzen, aber auch zu Bewegungsmangel. So ist das Skelettsystem besonders empfindlich. Kommt noch eine mit bestimmten Antiepileptika behandelte Epilepsie hinzu, vergrössert sich das Risiko für eine Osteoporose und für Knochenbrüche noch weiter. Auch spielen multifaktoriell bedingte Ess- und Ernährungsstörungen für die erhöhte Gebrechlichkeit eine Rolle. Letztlich geht es hier genau um die Frage, dass man Zusatzerkrankungen, die mit der Grunderkrankung einhergehen, gut begleiten muss.

Zur Person:

Dr. med. Thomas Dorn ist Chefarzt Neurologie an der ZURZACH Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern und Vorstandsmitglied von «Die Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen» (SSHID).

Letzte Aktualisierung: 02.05.2022