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Fachinterview zu Langzeitfolgen

Nachgefragt bei Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH

«DER LEIDENSDRUCK DURCH SOZIALE UND PSYCHISCHE EINSCHRÄNKUNGEN IST SEHR ERNST ZU NEHMEN»

Martin Kurthen, was können neurologische Langzeitfolgen von Epilepsie sein?

Hier muss man unterscheiden zwischen Epilepsien bei Kindern und bei Erwachsenen und zusätzlich auch wieder zwischen Epilepsien mit oder ohne neurologische Grunderkrankung. Wenn die Epilepsie bei Erwachsenen Ausdruck einer anderweitigen Grunderkrankung wie ein Hirntumor oder eine Stoffwechselerkrankung ist, dann sind mögliche Langzeitfolgen in erster Linie durch diese Grunderkrankung bestimmt.

Und wenn keine neurologische Grunderkrankung vorliegt?

Die epileptischen Anfälle als solche gehen in den meisten Fällen nicht mit neurologischen Langzeitfolgen einher und sind nicht wesentlich fortschreitend. Das bedeutet: Bei Epilepsien ohne fortschreitende Grunderkrankung sind keine schlimmen neurologischen Spätfolgen zu befürchten. Mittelbare Langzeitfolgen können sich hingegen durch Komplikationen der Epilepsie im Laufe der Jahre ergeben, zum Beispiel durch Schädel-Hirn-Verletzungen im Rahmen von anfallsbedingten Stürzen.

Gibt es auch erwiesene Langzeitfolgen, ausgelöst durch die Epilepsie-Medikamente?

Unerwünschte Langzeitfolgen durch Epilepsie-Medikamente kommen vor allem bei denjenigen Wirkstoffen vor, die den Stoffwechsel «ankurbeln» und dadurch zu Mangelzuständen führen können. Dabei handelt es sich meist um ältere Medikamente. Andere unerwünschte Nebenwirkungen der Medikamente zeigen sich meist nicht erst im Laufe einer jahrelangen Behandlung, sondern bereits in den ersten Wochen bis Monate einer Therapie. Insgesamt gibt es derzeit rund 30 verschiedene Medikamente zur Epilepsiebehandlung. Das Risikoprofil für die Entwicklung von Beschwerden ist bei den einzelnen Epilepsiemedikamenten sehr unterschiedlich. Wichtig ist: Im Einzelfall muss bei Auftreten neuer Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Epilepsietherapie immer gründlich überprüft werden, ob die Medikamente eine wesentliche Rolle spielen oder ob andere Ursachen den Beschwerden zugrunde liegen.

Was empfehlen Sie ihren Patienten, wenn sie von diffusen Beeinträchtigungen wie Konzentrationsstörungen berichten?

Wenn solche Störungen angegeben werden, ist eine weitergehende Abklärung zu empfehlen, um gegebenenfalls gezielte Gegenmassnahmen zu ergreifen. In einem ersten Schritt muss das Problem näher bestimmt werden. Wir neigen als Betroffene oft dazu, unsere eigenen Einbussen als «Konzentrationsstörungen» oder auch «Gedächtnisstörungen» zu beschreiben, obwohl bei näherer psychologischer Untersuchung das Problem vielleicht in ganz anderen Teilbereichen liegt, wie der Aufmerksamkeitsleistung.

Was hilft in solchen Fällen, um dem Problem auf den Grund zu gehen?

Hier hilft zur Klärung eine standardisierte neuropsychologische Untersuchung weiter, die es erlaubt, Art und Ausmass einer erlebten Störung näher zu bestimmen. Im zweiten Schritt wäre die Ursache der Störung zu ermitteln: Ist die Einbusse einfach ein Symptom der Epilepsie, oder wird sie durch die Epilepsiemedikamente ausgelöst oder besteht gar eine psychische Begleiterkrankung wie eine Depression, die auch die geistige Leistung verschlechtern kann? Oder liegt eine Schlafstörung zugrunde, die dann im Wachzustand zu Leistungseinbussen führt? Erst wenn all dies geklärt ist, kann eine gezielte Massnahme ergriffen werden, welche die individuelle Problemursache berücksichtigt.

Weisen Sie in der Beratung ihre PatientInnen auf mögliche soziale und psychische Langzeitfolgen hin?

Oft erleben die PatientInnen die epilepsiebezogenen sozialen und psychischen Probleme zu Recht als so bedeutend, dass sie diese schon von selbst vorbringen. Andernfalls muss der Arzt oder die Ärztin die Initiative ergreifen und die sozialen Aspekte wie Beruf, Sport, Fahreignung, Familienplanung und Partnerschaft von sich aus ansprechen. Die psychische Verfassung ist bei der Epilepsieerkrankung ein zentrales Thema. Das gemeinsame Auftreten von Epilepsien und beispielsweise Depressionen und Anpassungsstörungen ist sehr häufig. Der Leidensdruck durch das psychische Problem oft sogar grösser als derjenige durch die Anfälle selbst. Als Neurologen müssen wir somit aufmerksam sein, um das Vorliegen psychischer Probleme nicht zu übersehen. Manche Neurologen sind auch psychiatrisch versiert. Da die Fachgebiete in der Medizin heute aber stark spezialisiert sind, plädiere ich dafür, bei psychischen Problemen einen fachpsychiatrischen Rat einzuholen und wenn notwendig eine entsprechende Mitbehandlung zu etablieren.

Haben Sie weitere Empfehlungen für PatientInnen?

Mit der Diagnose ergeben sich viele Fragen für die Betroffenen. Um die Sorgen zu bearbeiten, profitieren PatientInnen und ÄrztInnen von der Möglichkeit, in den spezialisierten Epilepsie-Zentren und bei Epi-Suisse weitere Fachpersonen beizuziehen, vor allem aus dem sozialdienstlichen und psychologischen Bereich.

Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH

Text: Christine Walder