Heidy Gallati ist Mutter einer Betroffenen. Vor 40 Jahren gründete sie die Selbsthilfegruppe für Eltern von epilepsiebetroffenen Kindern Glarus von Epi-Suisse – wenn auch nicht ganz gewollt.
Text: Carole Bolliger
Foto: Markus Hässig
Heidy Gallati sitzt auf ihrer Terrasse im Glarnerland und zeigt Fotos von früher, als ihre Töchter noch Kinder waren. Heute ist ihre älteste Tochter Sandra 47 Jahre alt. Sie hat Epilepsie, ist aber mit Medikamenten gut eingestellt. Sandra Gallati lebt noch bei ihrer Mutter und arbeitet seit 28 Jahren jeden Tag in einer geschützten Werkstatt in Glarus, wo es ihr sehr gut gefällt. Heidy Gallati, die heute 69 Jahre alt ist, erinnert sich zurück, als ihre Tochter, die damals knapp einjährig war, ihren ersten Epi-Anfall hatte: «Der erste Anfall der eigenen Tochter fährt ein. Wir wussten nicht, was es war», erzählt Heidy Gallati.
Sandra sei nie müde gewesen und hätte nie geschlafen als Baby. «Wir waren in der Küche und ich wollte ihr Brei geben. Da hat sie gezuckt, ihre Augen verdreht und ihr ganzer Körper wurde ganz steif.» Die erschrockene Mutter rief den Arzt an, das kleine Mädchen kam sofort ins Kinderspital Zürich. Mehrere Untersuchungen ergaben, dass Sandra an Epilepsie erkrankt war. «Natürlich war es ein Schock, aber wir haben das schnell akzeptiert und mein Mann und ich sagten, wir erziehen sie einfach wie ein normales, gesundes Kind, sofern das denn möglich ist mit der Krankheit», erzählt Heidy Gallati weiter. Während sie und ihr Mann die Diagnose schnell akzeptieren konnten, sah das im Umfeld grösstenteils anders aus. Viele reagierten negativ. «Dass wir überhaupt ein behindertes Kind hätten», sagten mir zwei sehr nahestehende Personen, so Heidy Gallati. Ihre Enttäuschung und Frustration ist heute noch etwas zu spüren, wenn sie darüber spricht.
MAN KANN ES JA NICHT ÄNDERN.
ALSO MACHEN WIR DAS BESTE DRAUS
Es dauerte seine Zeit, bis Sandra die richtigen Medikamente erhielt. Bis dahin hatte sie zwei bis drei heftige Anfälle pro Woche und mehrere kleine sowie Absencen. «Die ganze Palette.» Und auch nachdem sie medikamentös richtig eingestellt war, hatte sie täglich mehrere Absencen. «Im Kindergarten wollten sie sie zuerst nicht», erinnert sich Heidy Gallati. Doch die Mutter kämpfte für ihre Tochter und so konnte sie den normalen Kindergarten in Glarus besuchen. Sobald sie in die Schule kam, entschieden die Eltern, sie in eine Sonderschule zu schicken. «Sobald Sandra zu viel Stress hatte, wurde sie nervös und sie ist schnell explodiert. Und die Anfälle häuften sich. Das wollten wir ihr ersparen.»
Offen mit der Krankheit umgehen
Mittlerweile hatte Sandra eine kleine Schwester bekommen. Sie ist vier Jahre jünger und die beiden verstehen sich auch heute noch sehr gut. Natürlich hätte Sibyll, die jüngere der beiden, öfters zurückstecken müssen, «aber wir haben versucht, sie beide gleich zu behandeln, und wir wollten Sandra nicht in Watte packen. Wir sind immer offen mit ihrer Krankheit umgegangen und meistens gut damit gefahren.» Als Sandra 10 Jahre alt war, wollte sie von einem Tag auf den anderen plötzlich keine Medikamente mehr nehmen. «Ich fresse die nicht», sagte sie. Sie weigerte sich, trotz gutem Zureden der Eltern. «Was hätten wir tun sollen?», fragt Heidy Gallati. «Wir haben sie ins Messer laufen lassen. Und nach einem saftigen Anfall nahm sie die Medikamente wieder ohne zu Murren.»
UNSERE GRUPPE IST OFFEN FÜR ALLE, WIR HABEN ALLES,
VOM BABY BIS ZUM SENIOR
Acht oder neun Mal musste sie die Medikamente bereits wechseln und neu einstellen. Doch sofern sie richtig eingestellt ist, kann sie sehr gut mit ihrer Krankheit leben. Vor zwei Jahren hatte Sandra Gallati den letzten epileptischen Anfall, hin und wieder hat sie heute noch Absencen. Sie braucht Routine in ihrem Alltag. Alles, was neu ist und unbekannt, mag sie nicht und bereitet ihr Mühe. «Sie kommt ziemlich gut zurecht, aber ohne Hilfe geht es nicht», sagt Heidy Gallati. Die 69-Jährige ist pensioniert und kümmert sich gerne um ihre beiden Enkelkinder, die gleich im Haus nebenan wohnen. Vor 14 Jahren musste sie den Tod ihres Mannes verkraften. Er war krank. Trotz vieler Schicksalsschläge ist Heidy Gallati ein sehr positiver und optimistischer Mensch: «Man kann es ja nicht ändern. Also machen wir das Beste draus», sagt sie. Das ist und war immer schon ihr Motto.
Gründung der Regionalgruppe
Vor 40 Jahren gründete sie eine Selbsthilfegruppe für Eltern von epilepsiebetroffenen Kindern in Glarus. «Eine andere Mutter von einem betroffenen Kind kam auf mich zu und fand, es müsste eine solche Gruppe geben», erinnert sie sich. Heidy Gallati wollte eigentlich zuerst nicht, hat sich dann aber doch einverstanden erklärt. «Wir haben alles aufgegleist und organisiert und dann meinte die andere Mutter, dass sie doch keine Lust mehr hätte.»Heidy Gallati liess sich davon nicht abhalten und gründete die Gruppe alleine. Bis heute leitet sie sie.
«Es geht darum, zu informieren, aufzuklären und sich auszutauschen», erklärt sie. Waren beim ersten Treffen vor 40 Jahren drei Personen anwesend, inklusive Heidy Gallati, so zählt die Gruppe heute offiziell 18 Mitglieder. Wenn sie Ausflüge machen, sind gerne aber auch mal zwischen 30 und 40 Personen mit dabei. Die Gruppe steht allen offen. Angefangen hat sie zwar als Gruppe für Eltern von epilepsiebetroffenen Kindern. Hinzu kamen andere Angehörige, aber auch Betroffene selber. «Unsere Gruppe ist offen für alle, wir haben alles, vom Baby bis zum Senior», sagt Heidy Gallati. Sie leitet die Gruppe immer noch mit viel Freude und Herzblut. Sie wäre froh gewesen, hätte es für sie eine solche Anlaufstelle vor über 46 Jahren gehabt, als ihre Tochter Sandra die Diagnose Epilepsie bekam. «Ich finde, die Menschen sind offener geworden, die Hemmschwelle ist heute tiefer.» Trotzdem wünscht sie sich immer noch mehr Akzeptanz in der Gesellschaft und weniger Vorurteile. Dafür setzt sie sich tagtäglich ein, seit 40 Jahren. «Es ist mir wichtig, meinen Teil dazu beizutragen.»
Sie leitet nicht nur die Regionalgruppe Glarus, sondern besucht auch Schulen, wo sie Vorträge hält oder bei Fragen Red und Antwort steht. Vor 13 Jahren rief sie Ferienlager für betroffene Kinder ins Leben. Gut 20 Kinder verbringen ein paar tolle, spannende und abwechslungsreiche Tage miteinander, während sich ihre Eltern eine Auszeit gönnen dürfen. An verschiedenen Märkten ist die Gruppe mit einem Stand vertreten. Dort werden selbstgebastelte Geschenke von den Kindern verkauft. Der Erlös kommt in die Gruppenkasse und wird für eine gemeinsame Aktivität eingesetzt.
Der Beitrag wurde zuerst publiziert im Epi-Suisse Magazin 02/2022. Mittlerweile hat Heidy Galatti die Leitung der Selbsthilfegruppe abgegeben.
https://open.spotify.com/playlist/0OKqpt5kkNyvUokpU79BA9?si=QXc7agxxQlyJE-cOui3wKA&pi=Pi6lxvZFQ62HuDer Beitrag wurde zuerst publiziert im Epi-Suisse Magazin 02/2022. Mittlerweile hat Heidy Galatti die Leitung der Selbsthilfegruppe abgegeben.Heidy Gallati ist der Kopf und das Herz der Regionalgruppe Glarus. Auch wenn sie das mit einem Handwischen etwas abtut. «Wir haben einen schönen Zusammenhalt und ich wünsche mir, dass das so bleibt und wir weiterhin wachsen können», sagt sie auf die Frage, was sie sich für die Zukunft «ihrer» Gruppe wünscht.