Nachgefragt bei Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH
«DER LEIDENSDRUCK DURCH SOZIALE UND PSYCHISCHE EINSCHRÄNKUNGEN IST SEHR ERNST ZU NEHMEN»
Martin Kurthen, was können neurologische Langzeitfolgen von Epilepsie sein?
Hier muss man unterscheiden zwischen Epilepsien bei Kindern und bei Erwachsenen und zusätzlich auch wieder zwischen Epilepsien mit oder ohne neurologische Grunderkrankung. Wenn die Epilepsie bei Erwachsenen Ausdruck einer anderweitigen Grunderkrankung wie ein Hirntumor oder eine Stoffwechselerkrankung ist, dann sind mögliche Langzeitfolgen in erster Linie durch diese Grunderkrankung bestimmt.
Und wenn keine neurologische Grunderkrankung vorliegt?
Die epileptischen Anfälle als solche gehen in den meisten Fällen nicht mit neurologischen Langzeitfolgen einher und sind nicht wesentlich fortschreitend. Das bedeutet: Bei Epilepsien ohne fortschreitende Grunderkrankung sind keine schlimmen neurologischen Spätfolgen zu befürchten. Mittelbare Langzeitfolgen können sich hingegen durch Komplikationen der Epilepsie im Laufe der Jahre ergeben, zum Beispiel durch Schädel-Hirn-Verletzungen im Rahmen von anfallsbedingten Stürzen.
Gibt es auch erwiesene Langzeitfolgen, ausgelöst durch die Epilepsie-Medikamente?
Unerwünschte Langzeitfolgen durch Epilepsie-Medikamente kommen vor allem bei denjenigen Wirkstoffen vor, die den Stoffwechsel «ankurbeln» und dadurch zu Mangelzuständen führen können. Dabei handelt es sich meist um ältere Medikamente. Andere unerwünschte Nebenwirkungen der Medikamente zeigen sich meist nicht erst im Laufe einer jahrelangen Behandlung, sondern bereits in den ersten Wochen bis Monate einer Therapie. Insgesamt gibt es derzeit rund 30 verschiedene Medikamente zur Epilepsiebehandlung. Das Risikoprofil für die Entwicklung von Beschwerden ist bei den einzelnen Epilepsiemedikamenten sehr unterschiedlich. Wichtig ist: Im Einzelfall muss bei Auftreten neuer Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Epilepsietherapie immer gründlich überprüft werden, ob die Medikamente eine wesentliche Rolle spielen oder ob andere Ursachen den Beschwerden zugrunde liegen.
Was empfehlen Sie ihren Patienten, wenn sie von diffusen Beeinträchtigungen wie Konzentrationsstörungen berichten?
Wenn solche Störungen angegeben werden, ist eine weitergehende Abklärung zu empfehlen, um gegebenenfalls gezielte Gegenmassnahmen zu ergreifen. In einem ersten Schritt muss das Problem näher bestimmt werden. Wir neigen als Betroffene oft dazu, unsere eigenen Einbussen als «Konzentrationsstörungen» oder auch «Gedächtnisstörungen» zu beschreiben, obwohl bei näherer psychologischer Untersuchung das Problem vielleicht in ganz anderen Teilbereichen liegt, wie der Aufmerksamkeitsleistung.
Was hilft in solchen Fällen, um dem Problem auf den Grund zu gehen?
Hier hilft zur Klärung eine standardisierte neuropsychologische Untersuchung weiter, die es erlaubt, Art und Ausmass einer erlebten Störung näher zu bestimmen. Im zweiten Schritt wäre die Ursache der Störung zu ermitteln: Ist die Einbusse einfach ein Symptom der Epilepsie, oder wird sie durch die Epilepsiemedikamente ausgelöst oder besteht gar eine psychische Begleiterkrankung wie eine Depression, die auch die geistige Leistung verschlechtern kann? Oder liegt eine Schlafstörung zugrunde, die dann im Wachzustand zu Leistungseinbussen führt? Erst wenn all dies geklärt ist, kann eine gezielte Massnahme ergriffen werden, welche die individuelle Problemursache berücksichtigt.
Weisen Sie in der Beratung ihre PatientInnen auf mögliche soziale und psychische Langzeitfolgen hin?
Oft erleben die PatientInnen die epilepsiebezogenen sozialen und psychischen Probleme zu Recht als so bedeutend, dass sie diese schon von selbst vorbringen. Andernfalls muss der Arzt oder die Ärztin die Initiative ergreifen und die sozialen Aspekte wie Beruf, Sport, Fahreignung, Familienplanung und Partnerschaft von sich aus ansprechen. Die psychische Verfassung ist bei der Epilepsieerkrankung ein zentrales Thema. Das gemeinsame Auftreten von Epilepsien und beispielsweise Depressionen und Anpassungsstörungen ist sehr häufig. Der Leidensdruck durch das psychische Problem oft sogar grösser als derjenige durch die Anfälle selbst. Als Neurologen müssen wir somit aufmerksam sein, um das Vorliegen psychischer Probleme nicht zu übersehen. Manche Neurologen sind auch psychiatrisch versiert. Da die Fachgebiete in der Medizin heute aber stark spezialisiert sind, plädiere ich dafür, bei psychischen Problemen einen fachpsychiatrischen Rat einzuholen und wenn notwendig eine entsprechende Mitbehandlung zu etablieren.
Haben Sie weitere Empfehlungen für PatientInnen?
Mit der Diagnose ergeben sich viele Fragen für die Betroffenen. Um die Sorgen zu bearbeiten, profitieren PatientInnen und ÄrztInnen von der Möglichkeit, in den spezialisierten Epilepsie-Zentren und bei Epi-Suisse weitere Fachpersonen beizuziehen, vor allem aus dem sozialdienstlichen und psychologischen Bereich.
Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH
Text: Christine Walder
«Famoses»-Kurs – Volle Kraft für den Familienalltag mit Epilepsie
Epilepsie bei Kindern – diese Diagnose bringt Familien aus dem Gleichgewicht. Angst, Überforderung und Unverständnis im Umfeld belasten zusätzlich. Epi-Suisse unterstützt Familien mit dem Kurs «famoses», in dem Kinder und Eltern lernen, im Alltag besser mit der Erkrankung zurecht zu kommen.
Epilepsie hat viele Gesichter und ist für Eltern, die betroffenen Kinder und auch die Geschwister mit starken Emotionen verbunden. EEG, MRT, fokale oder tonische Anfälle – plötzlich stehen unbekannte medizinischen Begriffe im Zentrum. Das betroffene Kind muss Medikamente nehmen, obwohl es möglicherweise nicht will. Schulkameraden reagieren mit Unverständnis, ziehen sich vielleicht sogar zurück. Die Angst vor dem nächsten Anfall begleitet die Eltern auf Schritt und Tritt.
Erfahrene, geschulte TrainerInnen
„Famoses“ steht für modulares Schulungsprogramm für Familien mit Epilepsie. Es ist ein Kurs, der speziell für Familien mit einem epilepsiebetroffenen Kind erarbeitet wurde und von besonders erfahrenen und geschulten Trainerinnen und Trainern geleitet wird. Im Zentrum steht, das Wissen und den Umgang mit der Erkrankung zu stärken.
Eltern und Kinder (auch Geschwisterkinder) lernen getrennt voneinander, unter Berücksichtigung ihrer besonderen Perspektive und natürlich altersgerecht, was Epilepsie ist, was im Kopf passiert bei einem Anfall und welche Folgen die Krankheit im Alltag haben kann.
Die Eltern werden im Kurs von eine/r Neuropädiater/in und einer Psychologin/Pflegeexpertin begleitet. «Der Kurs war so hilfreich, weil auch viele unserer persönlichen Fragen beantwortet wurden», berichtet eine Mutter. «Jetzt habe ich das Brevet in Epilepsie erworben und bin für den Alltag und auch im Kontakt mit unserem behandelnden Neuropädiater bestens gewappnet.»
«Ich bin ja gar nicht die einzige»
Der Kinderkurs wird von zwei Kindertrainerinnen geleitet. Die Mädchen und Buben begeben sich als Matrosen und Seemänner spielerisch auf die Insel «Fungus Rock», lernen, warum Medikamente helfen und üben auf der Ferieninsel, wie sie Epilepsie im Alltag, mit Schulkameradinnen und -kameraden oder Bezugspersonen ansprechen können. In vielen Fällen ist der famoses-Kurs für die kleinen Teilnehmenden das erste Mal, dass sie mit anderen betroffenen Kindern in Kontakt kommen. «Ich bin ja gar nicht die einzige mit dieser Krankheit», erzählt Marina, 9-jährig, nach dem Kurs und hält ihrer Mutter stolz das neue Seefahrer-Epilepsie-Diplom entgegen.
Der famoses-Elternkurs richtet sich an Eltern von betroffenen Kindern jeden Alters. Der Kinderkurs ist für Regelschüler im Alter von 8 bis 12-jährig geeignet. Die Kinder müssen lesen können und sollten sich über eine längere Zeit auf den Kurs konzentrieren können.
Erfahren Sie in unserem Veranstaltungskalender [Link auf Veranstaltungen], wann der nächste Kurs stattfindet oder fragen Sie direkt auf der Geschäftsstelle nach an info@epi-suisse.ch oder 043 488 68 80.
15. April 2023 – 22. April 2023
6. Mai 2023
10:00 – 15:00 Uhr
9. Mai 2023
19:00 – 20:30 Uhr
Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und seltenen Erkrankungen bilden für die Medizin eine grosse Herausforderung. Dr. med. Thomas Dorn erläutert, wo die grössten Lücken bestehen und welche Massnahmen nötig sind, um die Versorgung zu verbessern.
Thomas Dorn, wir haben in der Schweiz insgesamt eine gute medizinische Versorgung. Wird sie aber den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung oder seltenen Erkrankungen gerecht?
Während wir in der Schweiz puncto apparativ-technischer Diagnose- und Therapieverfahren besonders bei akuten Erkrankungen sicher gut aufgestellt sind, ist die Medizin für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen bzw. seltenen Erkrankungen nicht auf dem Niveau, das in anderen mittel- oder nordeuropäischen Ländern bereits erreicht wurde. Sie stellen bereits den Bezug zwischen intellektuellen Entwicklungsstörungen zu seltenen Erkrankungen her, das geschieht nicht oft.
Es fehlt am nötigen Fachwissen, um Menschen mit Beeinträchtigung zu behandeln
Warum nicht? Was verbindet die beiden Patientengruppen miteinander?
In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden dank moderner genetischer Verfahren erhebliche Fortschritte in der Diagnostik genetischer Erkrankungen gemacht – bei den meisten davon handelt es sich um sogenannte seltene Erkrankungen, d.h. sie betreffen weniger als 1 von 2000 Personen. Da das Gehirn als kompliziertestes menschliches Organ für seine Entwicklung sehr viele Gene benötigt, treten bei sehr vielen dieser seltenen genetischen Erkrankungen auch neurologische Symptome wie motorische Behinderungen, epileptische Anfälle und eben auch intellektuelle Entwicklungsstörungen auf.
Weil man viele Gene, die für die meist komplexen Störungs- und Krankheitsbilder verantwortlich sind, identifizieren konnte, verbesserte sich zugleich das Verständnis dafür, wie die verschiedenen und vielfältigen Symptome entstehen. Dabei ergaben sich bei einigen seltenen Erkrankungen auch verbesserte Therapieansätze. Diese gehen über die blosse Behandlung einzelner Symptome heraus und können das gesamte Krankheitsbild abmildern – insbesondere dann, wenn man schon sehr früh, in der Kindheit, mit solchen Therapien beginnen kann.
Das ist ein grosser Erfolg auch für die Medizin, doch wo liegt nun das Problem in Bezug auf intellektuelle Entwicklungsstörungen und seltenen Krankheiten?
An folgender Situation: Seit vielen Jahren gibt es nun in der Schweiz eine von Betroffenen,Angehörigen und Ärzt(inn)en getragene «Bewegung», die sich in Gestalt diverser Organisationen für die Bedürfnisse der von seltenen Erkrankungen Betroffenen einsetzt, wobei es vor allem um Kinder und Jugendliche geht. Diese politisch sehr wirksamen Bemühungen mündeten 2021 zu einer gesetzlichen Grundlage zur Sicherstellung der Versorgung im Bereich seltene Krankheiten. Obwohl aus den entsprechenden Dokumenten auf der Website des Bundesrates deutlich wird, dass die medizinischen und sozialen Herausforderungen für Betroffene von seltenen Erkrankungen denen von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen sehr ähnlich sind, spielen Letztere – insbesondere, wenn sie bereits erwachsen sind — im öffentlichen und politischen Diskurs leider (noch) keine Rolle.
Was sind die grössten Probleme, die sich für diese Betroffenen und deren Angehörige im Kontakt mit Ärzten/Ärztinnen stellen?
In erster Linie fehlt es in der breiten Ärzteschaft häufig am nötigen Fachwissen puncto Medizin für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen. Die oben erwähnten Fortschritte in der Medizinischen Genetik sind v.a. in der Erwachsenenmedizin weniger bekannt. Zu oft liest man in Arztbriefen immer noch Diagnosen wie «geistige Behinderung bei frühkindlicher Hirnschädigung», was auf diese Wissensdefizite hinweist und dazu führt, dass die für Diagnose und Therapie wichtige Frage nach der Ursache einer intellektuellen Entwicklungsstörung nicht gestellt wird. Dabei haben Betroffene ein Recht darauf, dass nach den Ursachen geforscht wird. Für die Behandlung ist das zentral. Man kann mit Kenntnis der Ursache präventiv wirken, um auf Komplikationen und Zusatzerkrankungen zu reagieren, die aufgrund der Ursache zu erwarten sind, oder bei – allerdings nur ganz wenigen – genetischen Syndromen mit modernen Therapien den Verlauf abzumildern Zudem kann eine Beeinträchtigung besser in die Lebensgeschichte eingeordnet und verarbeitet werden. All dies wird bereits in der ersten Fassung der Richtlinen «Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) postuliert.
Sehen Sie noch weitere Lücken in der Versorgung von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen?
Es braucht die Fähigkeit, mit Patientinnen und Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung in Kontakt treten und sie gründlich untersuchen zu können. Diese Fertigkeiten können nicht theoretisch, sondern nur im Rahmen der praktischen Arbeit erworben werden. Es braucht auch die Bereitschaft und das Interesse, sich mit einem umfangreichen Patientendossier zu befassen. Leider wird die dafür nötige zeitaufwendige und höchst anspruchsvolle «Arbeit in Abwesenheit des Patienten» im aktuellen Tarifsystem für ambulante ärztliche Leistungen nicht angemessen vergütet. Schliesslich ist zu bemerken, dass die Angebote der in der Schweiz früher auch und v.a. für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen zuständigen Epilepsiekliniken mit ihrer neurologischen bzw. neuropsychiatrischen Expertise leider nicht so im ambulanten und stationären Sektor weiterentwickelt wurden, wie dies dem wissenschaftlichen Fortschritt entspricht. In anderen Ländern wie z.B. in Deutschland hat man indessen entsprechende Angebote in Epilepsiekliniken ausgebaut und weiterentwickelt. Diese Lücke in der Schweiz versuchen nun psychiatrische Kliniken mit speziellen multidisziplinären medizinischen Angeboten zu schliessen. Ob man damit allerdings die Belange aller Betroffenen und ihrer Angehörigen abdecken kann, ist zumindest dann fraglich, wenn psychiatrische Aspekte keine Rolle spielen bzw. komplexe epileptologische Fragestellungen im Vordergrund stehen.
Was sind Voraussetzungen für eine zeitgemässe und bedürfnisgerechte medizinische Behandlung von Menschen mit Behinderung?
Zunächst braucht es Richtlinien zur notwendigen Diagnostik bei Verdacht auf eine intellektuelle Entwicklungsstörung. Dabei geht es neben der genauen Abklärung der Ursache vor allem um die genaue Erfassung und Beschreibung des Störungsbildes, um besser zu erkennen, wo es Defizite, aber auch, wo es Ressourcen gibt.
Was heisst das konkret?
Jeder Mensch ist anders. So ist auch jeder Patient mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung individuell zu betrachten und seine Stärken und Schwächen genau zu erfassen. Allfällige Verhaltensauffälligkeiten müssen hinsichtlich ihrer Entstehung genau analysiert werden. Es geht darum, die meist komplexe Verschränkung zwischen Umfeldfaktoren und den Einflüssen der zugrundeliegenden Erkrankung möglichst gut zu verstehen. Zudem darf man chronische Schmerzen oder eine andere somatische Begleiterkrankung als Mitursache nicht übersehen. Wichtig ist auch die sorgfältige Erfassung neurologischer Begleitsymptome und ‑Erkrankungen. Liegt eine Epilepsie vor, sind die Anfälle genauer zu beschreiben und von anderen anfallsartig auftretenden Symptomen (z.B. Synkopen, Stereotypien) zu unterscheiden. Allenfalls vorhandene Störungen der Motorik (Lähmungen, Spastik, Koordinations- und Bewegungsstörungen) müssen ebenso wie Störungen des Hörens und des Sehens erkannt und benannt werden. Nur so kann eine angemessene Unterstützung und Förderung etabliert werden. Auf diesen Erkenntnissen bauen dann die entsprechenden Behandlungen auf, für die es auch Richtlinien braucht.
Sie sind Vorstandsmitglied im Verband SSHID. Was trägt Ihr Verband zur Verbesserung der Versorgung bei?
Wir widmen uns seit einiger Zeit sehr intensiv der Erarbeitung solcher Diagnose- und Therapiestandards und versuchen, Erkenntnisse aus der Wissenschaft sowie das vielfältige Wissen und die Erfahrung unserer Mitglieder zu bündeln, damit schliesslich entsprechende Richtlinien formuliert werden können. Diese sollen sich dann auch bei der Weiterentwicklung der Tarife für medizinische Leistungen im ambulanten und stationären Bereich auswirken. Parallel dazu entwickelt die SSHID ein Curriculum für Ärztinnen und Ärzte, die sich intensiver oder hauptsächlich mit Diagnostik und Therapie bei Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung widmen wollen.
Sind mit solchen Standards, einem Curriculum für Ärzt*innen sowie den entsprechenden Tarifkategorien die Lücken gefüllt?
Es sind erste Schritte. Es ist auch zu wünschen, dass die universitäre Medizin in der Schweiz deutlich stärker als bisher z.B. in Genf endlich Bedeutung und Potenzial dieser Sparte der Medizin erkennt, sich entsprechenden wissenschaftlichen Fragestellungen widmet und auch in der Lehre für alle Ärzte relevante Inhalte vermittelt. Denn es braucht nicht nur Spezialistinnen und Spezialisten in spezialisierten ambulanten und stationären Angeboten. Auch in Arztpraxen und Spitälern, die nicht vornehmlich Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung behandeln, sollte ein gewisses Mass an Wissen und Erfahrung dazu vorhanden sein. Die Operation eines Leistenbruchs sollte an jedem Spital, das diesen Eingriff durchführt, auch bei einem Patienten mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung vorzugsweise in enger Abstimmung mit den involvierten Spezialistinnen und Spezialisten möglich sein.
Was unterstützt für einen erfolgreichen Arztbesuch, eine erfolgreiche Behandlung?
Betroffenen bzw. die Angehörigen sollten auf jeden Fall darauf hinwirken, dass sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte ausreichend Zeit für die Anamneseerhebung und die Untersuchung nehmen. Hilfreich – und angesichts der ja regelmässig zu knappen Zeit eigentlich notwendig ist, dass die Angehörigen selbst sämtliche Arztbriefe und Unterlagen am besten in einem Ordner in chronologischer Reihenfolge ablegen und bei jeder Konsultation mit sich führen. Und abgesehen von bestimmten Situationen haben Patientinnen und Patienten die freie Arztwahl. Auch von diesem Recht kann natürlich Gebrauch gemacht werden, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ärztlicherseits nicht die gebotene Sorgfalt und Gründlichkeit vorhanden waren.
Konkrete Symptome schildern, Angaben zum Schmerzempfinden machen – genau das können Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung vielfach nicht. Auch ist schwierig zu beurteilen, was im Sinne der Betroffenen am meisten zur Lebensqualität beiträgt. Wie kann die Würde eines Patienten dennoch bewahrt werden?
Entsprechendes Wissen und Erfahrung sowie ausreichend Zeit der betreuenden Ärztinnen und Ärzte sind die wichtigsten Voraussetzungen, die Lebensqualität von Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung zu verbessern und deren Würde zu bewahren.
Menschen mit geistiger Behinderung sind, wenn sie älter werden, stärker von „Frailty“ betroffen als andere Menschen. Das heisst, sie sind zu einem früheren Zeitpunkt und in grösserem Ausmass gebrechlich und verletzlich. Das sind die Gründe für diese frühe Verletzlichkeit und das heisst es für die Behandlung?
Die Gründe für die grössere Gebrechlichkeit im Alter von Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung sind vielfältig. Anbei ein paar Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Bei einer Trisomie 21 kommt es häufiger und auch früher zu einer Demenz als bei Menschen ohne diese chromosomale Anomalie. Motorische Funktionsstörungen führen häufiger zu Stürzen, aber auch zu Bewegungsmangel. So ist das Skelettsystem besonders empfindlich. Kommt noch eine mit bestimmten Antiepileptika behandelte Epilepsie hinzu, vergrössert sich das Risiko für eine Osteoporose und für Knochenbrüche noch weiter. Auch spielen multifaktoriell bedingte Ess- und Ernährungsstörungen für die erhöhte Gebrechlichkeit eine Rolle. Letztlich geht es hier genau um die Frage, dass man Zusatzerkrankungen, die mit der Grunderkrankung einhergehen, gut begleiten muss.
Zur Person:
Dr. med. Thomas Dorn ist Chefarzt Neurologie an der ZURZACH Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern und Vorstandsmitglied von «Die Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen» (SSHID).
Letzte Aktualisierung: 02.05.2022
Schach-Grossmeister Noël Studer wird Botschafter für Menschen mit Epilepsie
Er ist aktuell der erfolgreichste Schweizer Profi-Schachspieler (2579 FIDE-ELO) und tritt gegen die grössten Spieler an. In seiner Kindheit litt Noël Studer unter Epilepsie, einer häufigen neurologischen Krankheit. Heute will sich der erfolgreiche Sportler darum auch für Menschen mit Epilepsie einsetzen und ist neu Botschafter der Patientenorganisation Epi-Suisse.
Konzentration, logisches Denken, Ausdauer und strategisches Geschick – das braucht ein erfolgreicher Schachspieler. Noël Studer (24-jährig) bringt dies alles mit und trägt mittlerweile sogar den Titel eines Schach-Grossmeisters. Mit 2579 ELO-Punkten, der zentralen Wertung im Schachsport, hält er den Schweizer Spitzenplatz.
Dass er einst als Profi im Schach Karriere machen könnte, zeichnete sich in seiner Kindheit nicht ab. Noël Studer litt an Epilepsie. «Ich hatte Absencen, das heisst, ich war von einem Moment auf den anderen plötzlich wie abwesend», sagt Noël Studer. «Als Kind spielte ich Fussball, war Torwart im Club, und da stand ich auch, als ich den ersten Anfall hatte», erinnert er sich. «Der Ball rollte ins Tor – und ich stand einfach nur da und blickte ins Leere».
Der Ball rollte ins Tor – und ich stand einfach nur da und blickte ins Leere.
Es folgten aufwändige Abklärungen. Baden im Schwimmbad, Pool oder in der Aare, das war dem 7‑Jährigen plötzlich verboten. «Für einen Berner ist das besonders schlimm.» Hinzu kam, dass Noël Studer in der Schule und im Freundeskreis mit Mobbing konfrontiert wurde. «Die Epilepsie war nicht Hauptursache dafür, spielte aber sicher hinein.»
In der Behandlung seiner Epilepsie hatte Noël Studer Glück. Er zählte zu den rund 70% Epilepsiebetroffenen, die dank Medikamenten anfallsfrei wurden. Heute kann er die Antiepileptika sogar ganz weglassen. «Die Erfahrung aber hat mich dennoch geprägt», betont er, «und darum will ich heute etwas zurückgeben.» Für Epi-Suisse engagiert er sich als Botschafter für Kinder und Erwachsene mit Epilepsie und will für die Anliegen der Betroffenen sensibilisieren. «Viele wissen kaum etwas über Epilepsie oder bringen ganz falsche Vorstellungen damit in Verbindung», sagt er. Gleichzeitig wolle er aber auch Kindern, die mitten in der Behandlung stecken, Mut machen und für sie ein Vorbild sein: «Es ist wichtig zu sehen, dass die Epilepsie einen trotz Einschränkungen nicht daran hindern darf, seine Träume zu verfolgen.».
Es ist wichtig zu sehen, dass die Epilepsie einen trotz Einschränkungen nicht daran hindern darf, seine Träume zu verfolgen.
In der Schweiz leben 80’000 Menschen mit Epilepsie, 15’000 davon sind Kinder und Jugendliche. Die Krankheit kann in jedem Lebensalter auftreten. Die Unvorhersehbarkeit der Anfälle machen Betroffenen und dem Umfeld zu schaffen, erschweren die Planung von Beruf und Freizeitaktivitäten. Verlust des Fahrausweises, eingeschränkte Berufswahl und vor allem viele Vorurteile erschweren Betroffenen den Alltag.
Das Wissen über die Krankheit und die Anfallsformen zu stärken ist eine wichtige Voraussetzung, um Vorurteile abbauen zu können und die Integration von Epilepsiebetroffenen in Schule, Beruf und Freizeit zu fördern. Dieses Ziel verfolgt Epi-Suisse nun gemeinsam mit Noël Studer als Botschafter.
letzte Aktualisierung: 13.04.2021