Wer von einer chronischen Krankheit betroffen ist, benötigt nicht nur medikamentöse Hilfe. Gerade die sozialen und psychosozialen Aspekte können Betroffenen zu schaffen machen. In der Beratung von Epi-Suisse sind diese ein häufiges und wichtiges Thema.
Text: Christine Walder
Keine Epilepsie ist wie die andere. Ist eine erfolgreiche medikamentöse Einstellung erreicht, sodass Anfälle verhindert oder vermindert werden können, leben Betroffene meist lange mit ihren vorhandenen Ressourcen, mit denen sie auftretende Einschränkungen kompensieren. Wie die chronische Krankheit verschiedene Lebensbereiche beeinflusst, zeigt sich oft erst mit der Zeit. Eine der häufigen Beschwerden, die in der Sozialberatung bei Epi-Suisse thematisiert werden, ist, dass sich Betroffene nicht mehr so belastbar fühlen. Sie leiden unter Antriebslosigkeit, die Konzentrationsfähigkeit lässt nach, «Multitasking» fällt schwer, emotionale «Dünnhäutigkeit» und Aggressionen können zunehmen. Soziale Kontakte ermüden, die Erholungsphasen dauern länger, was wiederum zu sozialem Rückzug führen kann.
Beschwerden ernst nehmen und ansprechen
Solche Veränderungen sind verunsichernd und belastend. Und es sind Zeichen, die gehört werden wollen: Es ist wichtig, dass Erkrankte lernen, sich selbst gut zu beobachten und wahrzunehmen. Nahestehende Menschen können unterstützen, indem sie die Betroffenen auf allfällig verändertes Verhalten hinweisen: Haben die Betroffenen häufig Termine abgesagt, Abmachungen vergessen, erscheinen müde, aggressiv oder unkonzentriert? Der Austausch könnte wertvolle Hinweise liefern, wie sie besser auf sich achtgeben können und ob Massnahmen notwendig sind.
Eine neuropsychologische Abklärung kann Sinn machen, um schwierig zu fassende Einschränkungen aufzuzeigen. Nicht immer liegt eine krankhafte Störung vor: Die geistige Leistung ist normal, aber die betroffene Person stellt vielleicht bei zunehmendem gesellschaftlichem Leistungsdruck zu hohe Anforderungen an sich selbst und überfordert sich damit. Im besten Fall führt eine Abklärung zu mehr Klarheit, kann entlastend wirken und Strategien können erarbeitet werden.
Der Umgang mit den möglichen Einschränkungen durch die chronische Erkrankung ist von Mensch zu Mensch verschieden. Damit aber keine zusätzlich gravierenden Langzeitfolgen entstehen, lohnt es sich, schon früh Unterstützung zu holen und sich gut zu informieren. Sei dies beim Facharzt oder der Fachärztin, in Selbsthilfegruppen oder mit Hilfe von psychologischer Betreuung. In einer Krise kann eine Psychotherapie sinnvoll sein.
GANZ WICHTIG IST, DASS BETROFFENE NIE OHNE ABSPRACHE MIT DEM NEUROLOGEN IHR ARBEITSPENSUM REDUZIEREN, WENN DIE GESUNDHEITLICHE SITUATION DER GRUND IST.
Wichtig ist allerdings, dass der Therapeut oder die Therapeutin sich mit chronischen Erkrankungen und deren Folgen auskennt. Neu kann die Psychotherapie vom Hausarzt verordnet werden und wird bei anerkannten Therapeuten über die Grundversicherung finanziert.
Soziale Nachteile im Berufsleben möglichst verhindern
Sind von Epilepsie Betroffene medikamentös gut eingestellt und «anfallsfrei», werden sie als zu 100 Prozent arbeitsfähig eingestuft. Dass kann dann zum Problem werden, wenn sie ihren gelernten Beruf unter anderem aus Sicherheitsgründen nicht mehr ausüben dürfen und keine für sie angepasste Arbeit finden oder sich umschulen müssen. Mit einer chronischen Erkrankung ist man auf dem Arbeitsmarkt klar im Nachteil. Das Thema Arbeit gehört dann auch zu den Hauptthemen, die in der Sozialberatung bei «Epi-Suisse» auftauchen
«Ganz wichtig ist, dass Betroffene nie ohne Absprache mit dem Neurologen oder der Neurologin ihr Arbeitspensum reduzieren, wenn die gesundheitliche Situation der Grund ist», betont Caterina Ruch, Sozialberaterin bei Epi-Suisse. Eine Pensumreduktion wirkt sich immer auf die finanzielle Absicherung aus. Kündigungen mit einer chronischen Erkrankung im Hintergrund bringen zudem immer ein erhöhtes Risiko, dass Vorbehalte bei der Krankentaggeldversicherung oder auch bei der Pensionskasse gemacht werden. Komplexe, individuelle berufliche Situationen sollten gemeinsam mit einem Berater oder einer Beraterin erörtert werden, um finanzielle Langzeitfolgen und unnötigen zusätzlichen Stress zu verhindern.
Chronische Erkrankungen haben einen Einfluss auf die gesamte Lebensgestaltung. Langzeitfolgen können sich in Depressionen, Rückzugsverhalten oder auch emotionaler Instabilität äussern und Beziehungen und das Familienleben belasten. In der Sozialberatung kommen auch Themen wie Umgang mit Epilepsie in der Partnerschaft und die Freizeitgestaltung zur Sprache.
Die Ängste einer Betroffenen vor einer Schwanger- und Mutterschaft sind oft grösser als die Gefahren. Trotzdem gibt es einige Punkte, worauf Frauen mit Epilepsie achten müssen, wenn sie schwanger werden möchten. Dr. med. Silke Biethahn, Nerologin FMH, sagt, welche dies sind und was betroffene Mütter besonders brauchen, wenn das Kind da ist.
Interview: Carole Bolliger
Was sind die grössten Herausforderungen, wenn eine Betroffene schwanger werden möchte?
Frauen mit Epilepsie werden weniger häufig schwanger als Frauen ohne Epilepsie. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen besteht die Angst, dass man aufgrund der Epilepsie der Rolle als Mutter nicht gewachsen ist. Zum anderen befürchten viele Patientinnen, dass die Medikation in der Schwangerschaft ihrem Baby schaden würde oder dass sie die Epilepsie vererben würden. Weiter kann das sexuelle Verlangen durch manche Epilepsiemedikamente vermindert werden. Die Fruchtbarkeit allgemein ist gemäss neueren Studien wohl kaum vermindert. Es gibt allerdings einzelne Medikamente, die Veränderungen auslösen können, die die Fruchtbarkeit mindern.
Worauf muss eine Frau mit Epilepsie achten, wenn sie schwanger werden will? Was ist wichtig?
Wichtig ist, dass man das Thema frühzeitig mit seinem Neurologen bespricht. Es ist wichtig, dass ein Schwangerschaftswunsch bei der medikamentösen Einstellung berücksichtigt wird. Es gibt Medikamente, die tatsächlich ein klar erhöhtes Risiko haben, dem Baby zu schaden, in erster Linie ist hier der Wirkstoff Valproat zu nennen. Es gibt jedoch auch einige Medikamente, bei deren Einnahme die Gefahr einer Fehlbildung nur minimal erhöht ist. Gleichzeitig muss die Wirksamkeit der Medikation so hoch wie möglich sein – gerade generalisierte Anfälle können in der Schwangerschaft mit einer Gefährdung von Mutter und Kind einhergehen. Auch sollte bei Planung einer Schwangerschaft mit einer Folsäureprophylaxe begonnen werden, die ebenfalls das Risiko einer Fehlbildung in der Schwangerschaft senkt.
Ist Epilepsie ein Grund, auf Kinder zu verzichten?
Epilepsie ist praktisch nie ein Grund, auf Kinder zu verzichten.
EURAP ist das internationale Register für Schwangerschaften unter Einnahme von Antikonvulsiva (European Registry of Antiepileptic Drugs and Pregnancy). GynäkologInnen (oder NeurologInnen) sollten dieses Register jeweils führen, wenn sie Schwangere mit Antiepileptika begleiten. Es dient dazu, Nebenwirkungen und Folgen von Medikamenten auf die Schwangerschaft besser zu erfassen, zu dokumentieren und zu erkennen:
Das International Bureau for Epilepsy IBE führte eine Umfrage in Europa durch, wie gut Frauen mit Epilepsie im gebärfähigen Alter über die Risiken einer Schwangerschaft informiert sind und wie verständlich diese Informationen sind. Mehr Infos:
Was sind die Schwierigkeiten während einer Schwangerschaft? Was sind Risikofaktoren?
In der Schwangerschaft muss die medikamentöse Therapie besonders genau eingehalten werden. Ziel ist es, die Medikamente so einzustellen, dass das ungeborene Kind so wenig wie möglich dadurch gefährdet ist, gleichzeitig aber auch Anfälle vermieden werden. Erschwerend ist dabei, dass sich in der Schwangerschaft viele Medikamentenspiegel verändern.
Steigt das Anfallsrisiko während einer Schwangerschaft?
70 Prozent der Schwangeren mit Epilepsie stellen gar keine Veränderungen ihrer Epilepsie fest, etwa 15 Prozent registrieren eine Besserung, und bei den restlichen 15 Prozent kommt es zu einer Verschlechterung. Um das Risiko einer Verschlechterung zu reduzieren, ist es wichtig, die Medikamentenspiegel regelmässig zu kontrollieren.
Welche Risiken für das Kind bestehen bei einer Epilepsie der Mutter?
Epileptische Anfälle können zu einem Sauerstoffmangel führen, der Mutter und Kind schaden kann, vermutlich mehr, als die Epilepsiemedikamente. Ausserdem besteht die Gefahr einer fetalen Blutung, einer Fehlgeburt oder sogar Totgeburt. Beim anfallsbedingten Sturz einer Schwangeren kann es zu Gebärmutterverletzungen, Plazentablutungen oder einer vorzeitigen Plazentalösung kommen. Ganz falsch wäre es also, aus Angst vor der unerwünschten Medikamentenwirkung die Behandlung während der Schwangerschaft plötzlich zu unterbrechen.
Können die Medikamente das ungeborene Kind beeinträchtigen, ihm schaden?
Ja, Medikamente gegen Epilepsie können zu Fehlbildungen führen, auch ist das Risiko einer Fehlgeburt leicht erhöht. Insgesamt kommen jedoch etwa 95 Prozent der Kinder von Müttern mit Epilepsie gesund zur Welt, im Vergleich von etwa 98 Prozent der Kinder von Müttern ohne Epilepsie. Grundsätzlich ist das Risiko einer Fehlbildung durch folgende Faktoren zu reduzieren: je weniger Wirkstoffarten eingenommen werden desto besser; die Menge des Wirkstoffs sollte so gering wie möglich sein; es ist besser, zwei bis drei Mal täglich eine kleine Menge des Wirkstoffs einzunehmen, als einmal täglich eine entsprechend grosse Menge; wenn irgend möglich, sollte eine Behandlung mit dem Wirkstoff Valproat vermieden werden; es sollte insbesondere im ersten Drittel der Schwangerschaft neben einer ausgewogenen Ernährung eine höherdosierte Gabe von Folsäure erfolgen.
Ist Epilepsie vererbbar? Wie hoch ist das Risiko einer Vererbung?
Es gibt seltene erbliche Epilepsien, in der Regel ist keine klare Vererbbarkeit vorhanden. Insgesamt ist das Risiko, dass ein Kind von einer Frau mit Epilepsie ebenfalls an Epilepsie erkrankt, etwa zwei bis fünf Prozent, im Vergleich von etwa einem Prozent bei Kindern von Müttern ohne Epilepsie.
Was, wenn der Wunsch so gross ist und ein Paar unbedingt ein Kind will – gegen jeden ärztlichen Rat? Was raten Sie diesem Paar?
Die Situation, dass man von einem Kinderwunsch klar abraten muss, ist sicher ausgesprochen selten. Hingegen gibt es Umstände, in denen eine Schwangerschaft neurologisch und frauenärztlich besonders eng begleitet werden muss. Dies gilt insbesondere für Frauen mit häufigen Anfällen und mit einer komplizierten Behandlung mit mehreren, teilweise hochdosierten Medikamenten. Ganz besonders diesen Frauen rate ich, dass sie in einer Klinik für Geburtshilfe betreut werden, die mittels eines speziellen Ultraschalls auch schon im Mutterleib zum Beispiel Fehlbildungen des Herzens erkennen können. So kann frühzeitig entschieden werden, welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen, ob die Eltern einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht ziehen oder wie die spätere optimale Betreuung des Kindes erfolgen kann. Auch empfehle ich, die Entbindung in einem Zentrum vorzunehmen, wo nach der Geburt im Notfall auch eine intensivmedizinische Versorgung für Kinder möglich ist, also in einem Spital mit Kinderklinik und Neonatologie.
Ist das Baby erst mal da, gibt es viele schlaflose Nächte – was Gift ist für Betroffene, die regelmässig Schlaf brauchen. Was raten Sie? Worauf soll man achten?
Grundsätzlich ist es wichtig, dass in diesen Situationen der Vater des Kindes unterstützt. Es ist zu empfehlen, dass die Mutter Milch abpumpt, die der Vater dann nachts mit dem Schoppen geben kann, damit die Mutter ein paar Stunden am Stück schlafen kann.
Je nach Medikament rate ich auch teilweise dazu, die Dosis des Medikamentes in den ersten Monaten nach der Entbindung etwas höher zu lassen, um das Risiko epileptischer Anfälle zu senken.
Dann gibt es auch noch pragmatische Aspekte: So sollte eine Mutter mit Epilepsie (je nach Anfallsart) ihr Kind nicht allein auf einem hohen Wickeltisch wickeln, sondern eher auf dem Boden – wenn die Mutter in so einer Situation einen Anfall hat, ist die Gefahr gross, dass das Kind unbeaufsichtigt vom Wickeltisch fällt. Auch bietet es sich an, das Kind in einer Trage zu haben, wenn man umhergeht, damit einem das Kind bei einem Anfall nicht aus den Armen fällt. „Umkehrbremsen“ am Kinderwagen, Bremsen, die man drücken muss, damit der Wagen fährt, der Wagen stoppt, wenn man diese loslässt, sind auch zu empfehlen.
Wenn nicht die Frau, sondern der Mann betroffen ist, ist es für das Paar dann schwieriger, schwanger zu werden?
Bei Männern mit Epilepsie kommt es in der Tat vor allem in Abhängigkeit von der Medikation etwas gehäuft zu vermindertem Verlangen nach Geschlechtsverkehr, verminderter Potenz oder etwas verminderter Fruchtbarkeit. Die Verordnung erektionsverstärkender Mittel wie Sildenafil (Viagra®) oder ähnlichen Präparaten an Männer mit Epilepsie wird in der Regel als unproblematisch eingeschätzt, es gibt keinen klaren Hinweis darauf, dass es darunter zu vermehrten Anfällen kommt.
Auf der Webseite unserer Partnerorganisation, der Schweizerischen Epilepsie-Liga, finden Sie weitere Informationen zum Thema Epilepsie und Kinderwunsch.
Wie gehen betroffene Frauen mit dem Thema Kinderwunsch um? Wir haben drei Mütter und einen Vater gefragt, wie es für sie war.
Marisa G. ist 26 Jahre alt. Seit 15 Jahren hat sie Epilepsie mit Absenzen, etwa alle zwei bis drei Wochen, manchmal mehrere hintereinander.
„Ich bin noch keine Mutter. Wenn möglich, möchte ich später aber sehr gerne Kinder haben. Ich bin verlobt und mein zukünftiger Mann möchte auch sehr gerne Kinder haben. Wir haben uns noch nicht gross mit dem Thema Schwangerschaft und Epilepsie auseinandergesetzt oder mit dem Arzt gesprochen, aber ich selber mache mir grosse Sorgen, dass in der Schwangerschaft oder später, wenn das Kind geboren ist, dem Kind etwas passiert, wenn ich eine Absenz habe. Da ich bei einer Absenz den Körper nicht ganz unter Kontrolle habe, mache ich mir Sorgen, dass ich das Kind fallen lassen könnte und es sich verletzt. Ebenfalls mache ich mir Sorgen, dass das Kind eventuell auch Epilepsie bekommt, da es vererbbar ist.
Der Wunsch, Mutter zu werden, ist sehr gross, aber zurzeit sind meine Ängste noch grösser. Trotzdem bin ich sehr optimistisch, dass es einen Weg geben wird und wir trotz meiner Epilepsie Eltern werden können. Unser Umfeld steht hinter uns und unterstützt uns, das weiss ich.“
Christine L., 38 Jahre, ist Mutter eines 10-jährigen Sohnes. Sie hat Epilepsie mit fokalen Anfällen und Aura seit ihrem 6. Altersjahr. Heute hat sie stressbedingt noch etwa zwei Anfälle pro Jahr.
„Mir wurde von meinem Umfeld und auch den Ärzten immer gesagt, dass es nicht verständlich wäre, wenn ich mit meiner Krankheit ein Kind hätte. Deshalb war das lange kein Thema für uns. Mein Mann und ich haben eine Weltreise gemacht und da kam der Wunsch nach einem Kind immer mehr auf. Als wir zurück waren, haben wir uns mit dem Thema befasst und mein Gynäkologe sagte mir, dass ich auch mit Medikamenten schwanger werden könne. Meine Neurologen waren nicht so begeistert. Ein Epi-Medikament musste ich absetzen. Ich wurde sehr schnell schwanger und in der ersten Hälfte meiner Schwangerschaft war alles gut, danach hatte ich einen oder zwei Anfälle pro Monat. Ich hatte aber nie Angst, ich war immer davon überzeugt, dass alles gut kommt. Gegen Ende der Schwangerschaft wurde es etwas schwieriger, weil ich nicht mehr gut schlafen konnte und Schlaf doch sehr wichtig ist für mich. Dann hatte ich auch mehrere Anfälle im Schlaf. Mein Mann hatte Angst, dass ich und das Kind zu wenig Luft bekommen.
Als unser Sohn auf der Welt war, habe ich wieder angefangen, Medikamente zu nehmen. Die erste Zeit war sehr schwierig, weil ich zu wenig Schlaf hatte. Dann hat mein Mann die Nachtschichten übernommen und ich kam wieder zu genügend Schlaf. Als unser Sohn zwei Jahre alt war, war es besonders schwierig für mich. Er forderte viel, ich hatte häufig Anfälle, auch tagsüber, was vorher nie vorkam. Er war im Laufgitter und ich hatte neben ihm Anfälle. Das war natürlich nicht schön. Als er dann in die Kita kam, wurde es etwas besser. Bis vor zwei Jahren war es ein purer Stress, ich hatte viele Anfälle, musste die Medikamente in höchster Dosis nehmen und hatte Selbstmordgedanken. Trotzdem habe ich die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, nie bereut. Mein Mann hat von Anfang an gesagt, dass wenn wir Eltern werden, wir sicher nur ein Kind bekommen. Ich hätte es schön gefunden, ein Geschwisterchen für unseren Sohn zu haben, aber es ist schon vernünftiger so. Mit meinem Sohn rede ich ganz offen über meine Krankheit, für ihn ist es ganz normal, dass ich Medikamente nehme und zum Beispiel nicht mit ihm in den Europapark kann. Er hat auch schon Anfälle von mir miterlebt und fand das eher lustig als beängstigend.“
Jeannette W. (41 Jahre) und Reto L. (45) haben zusammen einen 4-jährigen Sohn. Jeannette W. ist von Epilepsie betroffen. Sie hatte grosse Krampfanfälle. Seit ein paar Jahren ist sie mit Medikamenten anfallsfrei. Jeannette W. ist Mitarbeiterin von Epi-Suisse.
Jeannette W.: „Eine Familie zu gründen, war für uns lange kein Thema. Das hatte aber nichts mit meiner Krankheit zu tun. Als ich dann 36 Jahre alt war, wurde der Wunsch stärker. Meine Epilepsie-Medikamente waren mit einer Schwangerschaft gut verträglich. Ich hatte auch eine gute Ärztin, die uns sehr ausführlich über das Thema Schwangerschaft und Antiepileptika aufgeklärt hat. So musste ich häufiger zu Kontrollen bei meiner Gynäkologin. Bis auf die vermehrten Arztbesuche hat mich die Epilepsie in meiner Schwangerschaft nicht beeinträchtigt. Meine Gynäkologin und meine Neurologin haben sich regelmässig ausgetauscht. Ich war in besten Händen. In der 28. Woche bestand bei einer Routineuntersuchung plötzlich der Verdacht auf eine Schwangerschaftsvergiftung und ich musste für detaillierte Abklärungen ins Spital. Ab diesem Zeitpunkt, respektive wenige Stunden nach Spitaleintritt, verlief alles sehr, sehr viel schneller als eigentlich geplant. Unser Glitzerstern erblickte noch während meines ersten Tages im Spital das Licht der Welt.
Während der Schwangerschaft erlitt ich einen einzigen Anfall, obwohl ich bereits jahrelang anfallsfrei war. Für uns sowie auch für meine Neurologin war dies jedoch unerklärlich, da dieser Anfall untypisch verlief. Es passierte am Abend, dauerte weniger als eine Minute, die Zuckungen waren kaum wahrnehmbar und ich war unmittelbar danach wieder ansprechbar. Eine anschliessende Kontrolle bei der Gynäkologin zeigte, dass unser Baby den Anfall gut überstanden hatte. Die Neurologin vermutete, dass mein Medikament, aufgrund des steigenden Östrogenspiegels in der Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt zu niedrig dosiert war.
Als unser Sohn Niall 1.5 Jahre alt war, erlitt ich einen weiteren Anfall. Am frühen Morgen, geweckt durch sein Weinen, wurde alles zu viel. Es war eine anstrengende Woche bei der Arbeit und zugleich eine intensive Betreuungszeit, da Niall zahnte und jede Nacht nahezu ununterbrochen vor Schmerzen schrie. Mein Mann und ich hatten bereits von Anfang an vereinbart, dass er sich um die Nachtschichten kümmern wird. In dieser Woche konnte ich jedoch das intensive und laute Weinen unseres Sohnes nicht ausblenden. Und dies, obwohl ich wusste, dass Niall bei Reto in den besten Händen war. Ein geregelter Schlafrhythmus war einfach nicht möglich und ich hatte diesen epileptischen Anfall.
Reto L.: „Jeannette hat ihre epileptischen Anfälle durch die Medikamente unter Kontrolle. Ich hatte somit nie Angst oder irgendwelche Bedenken bezüglich gemeinsamer Kinder. Trotz der Hektik des Alltags mit einem kleinen Kind ist es wichtig, die Medikamente konsequent einzunehmen. Ich hatte manchmal Sorgen, dass Jeannette dies vergessen könnte. Mit einer Pillenbox hat man jederzeit einen guten Überblick – und, es gibt sie auch in «schön». Die ersten beiden Jahre mit Niall waren sehr anstrengend. Er war viel krank, benötigte täglich seine Medikamente und wir mussten täglich mehrmals mit ihm inhalieren. Natürlich konzentrierten wir uns während dieser Zeit stark auf das Wohlergehen unseres Sohnes, trotzdem darf man sich selbst nicht vergessen oder vernachlässigen.
Für Jeannette ist es sehr wichtig, auf den Schlaf zu achten, und sie braucht einen geregelten Schlafrhythmus. Für mich war es daher selbstverständlich, dass ich die Nachtschichten übernommen habe. Der kurze Anfall in der Schwangerschaft hat uns deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, konsequent auf den Schlafrhythmus und die Einnahme der Medikamente zu achten.
Nach aussen hin scheint alles ‚normal‘ und auch wir vergessen die Epilepsie fast.“
Schuldgefühle können für Eltern von epilepsiebetroffenen Kindern sehr belastend sein, da sie das Gefühl haben, dass sie die Erkrankung verursacht haben könnten oder dass sie nicht genug tun, um die Symptome zu lindern. Sara Satir ist Coach, Seminarleiterin, Kolumnistin und selber Mutter eines betroffenen Kindes.
Interview: Carole Bolliger
Wie verbreitet sind Schuldgefühle bei Angehörigen von Epilepsiebetroffenen und welche Faktoren können dazu beitragen?
Bei mir in der Praxis erlebe ich viele Eltern von kranken oder beeinträchtigten Kindern, die von Schuldgefühlen geplagt werden. Dazu können verschiedene Faktoren führen: zum Beispiel, wenn es sich um eine Erbkrankheit handelt, an der das Kind erkrankt ist. Die Eltern fragen sich, ob sie etwas weitergegeben haben. Viele Mütter fragen sich, ob sie während der Schwangerschaft etwas falsch gemacht haben. Das sind aber immer irrationale Schuldgefühle, die medizinisch nicht auf Fakten beruhen. Trotzdem haben sehr viele Eltern von betroffenen Kindern damit zu kämpfen.
Auch von vielen Eltern höre ich oft die Frage, ob sie genug für ihr Kind machen. Könnte man in der Begleitung etwas anders machen? Braucht mein Kind mehr oder weniger Therapien? Auch Eltern mit gesunden Kindern kennen diese Fragen und Sorgen. Aber bei kranken oder beeinträchtigten Kindern erhöhen sich die Schuldgefühle klar. Spezifisch bei Kindern, die von Epilepsie betroffen sind, fragen sich die Eltern häufig, hätte man den Anfall verhindern können oder was haben sie falsch gemacht, dass der Anfall überhaupt ausgelöst wurde?
Andererseits gibt es aber auch Eltern, die keine Schuldgefühle haben, und die sind nicht „komisch“ oder „abnormal“.
Es ist höchste Zeit, dass wir den Ball voller Schuldgefühle zurückwerfen
Wie können Angehörige von Epilepsiebetroffenen besser mit der Unsicherheit und den Sorgen umgehen, die mit dieser Erkrankung einhergehen können?
Sehr wichtig ist, dass man nicht immer nur die Erkrankung oder Beeinträchtigung des Kindes sieht, sondern sich auch darauf konzentriert, was das Kind alles kann und was man mit ihm Schönes erlebt. Diese Glücksmomente festzuhalten, kann in schwereren Zeiten sehr stärkend sein. Es fördert die Resilienz. Wichtig ist auch, dass man sich Hilfe holt und diese annimmt. Ein Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen“. Bei einem kranken oder beeinträchtigten Kind braucht es ein noch grösseres Dorf.
Was sind weitere Herausforderungen, die bei Angehörigen von Epilepsiebetroffenen Schuldgefühle auslösen?
Abgesehen von dem bereits Gesagten kann es eine grosse Herausforderung sein, den Spagat zwischen den Bedürfnissen des betroffenen Kindes, den Bedürfnissen der Geschwister und den eigenen Bedürfnissen zu finden. Häufig haben Eltern auch Schuldgefühle den Geschwistern des betroffenen Kindes gegenüber. Man sollte die Probleme offen und ehrlich ansprechen, nichts beschönigen und bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Welche Art von Unterstützung und Ressourcen gibt es für Angehörige von Epilepsiebetroffenen, die unter Schuldgefühlen leiden, und wo können sie Hilfe finden?
Ich empfehle, sich mit anderen Eltern von betroffenen Kindern zu vernetzen. Das nimmt das Gefühl vom Alleinsein. Wenn mal Schuldgefühle alleine trägt, verstärken sie sich. Im Coaching oder in der Therapie darüber reden. Sich nicht schämen oder denken, man sei komisch, dass man diese Gefühle hat. Es gibt auch viele gute Bücher zu dieser Thematik. Ich versuche, meinen Klientinnen und Klienten Mut zu machen, darüber zu reden. Für viele ist es immer noch ein Tabuthema. Auch mit Ärzten sollte man darüber reden. Diese machen manchmal unbedachte Aussagen, welche die Schuldgefühle verstärken. Da sollte man klar hinstehen und die Schuld von sich weisen. Es ist höchste Zeit, dass wir den Ball voller Schuldgefühle zurückwerfen. Denn als Eltern von kranken oder beeinträchtigen Kindern trägt man sonst schon genug.
Im November leite ich den Kurs „Selbstfürsorge im Familiensystem“ von Epi-Suisse. Dort werden Denkanstösse und praxisnahe Techniken vorgestellt, die sich gut im Alltag umsetzen lassen, und sei er noch so hektisch. Auch bleibt Raum und Zeit für die Eltern, sich auszutauschen.
Welche weiteren Strategien gibt es, um Schuldgefühle bei Angehörigen von Epilepsiebetroffenen zu bewältigen und wie können diese Strategien unterstützt werden?
Es gibt keine Patentlösung dafür. Wichtig finde ich, dass sich die Eltern bewusst sind, dass alle Eltern hin und wieder mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben. Sowohl solche von kranken, als auch von gesunden Kindern. Man sollte den Eltern vermitteln, dass das, was sie machen, genügt. Denn Eltern handeln in bester Absicht mit allen Ressourcen, die sie haben. Und das ist genügend.
Wie wichtig ist es für Angehörige, sich selbst zu pflegen und welche Massnahmen können sie ergreifen, um ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu fördern?
Ein Kind gross zu ziehen ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Nur, wer sich selber Sorge trägt, kann den langen, harten und teils steinigen Marathon meistern. Eltern sollten kein schlechtes Gewissen haben, das Kind mal abzugeben, um Zeit für sich zu haben. Wenn man sich selber gut schaut, kann man auch für sein Kind längerfristig gut sorgen. Selbstfürsorge ist deshalb immer auch Sorge für das Kind.
Wie können Freunde und Familienmitglieder von Angehörigen von Epilepsiebetroffenen dabei helfen, Schuldgefühle zu reduzieren?
Angehörige, Familien, Freunde, Verwandte sollten sich bewusst sein, dass man mit unbedachten Aussagen die Schuldgefühle der betroffenen Eltern noch mehr verstärken kann. Die Verunsicherung ist eh schon gross. Wenn man nicht weiss, was man sagen soll, kann man am besten einfach seine Unterstützung anbieten. Auf unbedachte Aussagen wie „da hättet ihr halt konsequenter sein sollen“ oder «ich würde unbedingt noch Therapie xy ausprobieren» solle man verzichten. Man muss sich bewusst sein, dass es wirklich schon mehr als genug ist, was die Eltern tragen müssen.
Auch Betroffene können Schuldgefühle haben.
Schuldgefühle gehören zur biologischen Ausstattung. Jeder Mensch kann sie haben. Aber nicht bei allen ist es gleich. Es gibt nicht DAS Schuldgefühl. Ich habe auch schon mit Menschen mit Epilepsie gearbeitet, die Schuldgefühle haben und denen es unangenehm ist, wenn es nur um sie geht. Niemand trägt Schuld, das finde ich wichtig. Nicht der, der krank ist und auch nicht der, der gesund ist. Wir alle gehören zur Gesellschaft – genauso wie wir sind. Und jeder hat das Recht auf Teilhabe.
In der Theorie klingt das gut. Aber in der Praxis sieht das anders aus.
Ja und das macht mich wütend, dass die Gesellschaft so exkludierend ist. Wir leben leider in einer genormten Welt. Wenn ein Mensch diese Norm verlässt, muss automatisch jemand schuld sein. Mit dieser Person stimmt ja etwas nicht. Es ist utopisch, aber mein Wunsch ist, dass einfach jeder dazugehört. Dann würde sich auch die Schuldthematik zu einem grossen Teil auflösen. Die betroffenen Personen und Familien bekämen die Hilfe und Unterstützung, die sie brauchen. Ohne gross dafür kämpfen zu müssen.
Und wie kann dieser „utopische“ Zustand erreicht werden?
Wir brauchen mehr offene Kommunikation, mehr Sensibilisierungskampagnen für unsichtbare Hürden. Das ist unter anderem auch die Aufgabe von Organisationen wie Epi-Suisse. Je mehr Sichtbarkeit, desto kleiner die Hürden, die der Inklusion im Weg stehen. Das ist natürlich ein grosses Politikum. Wir in der Schweiz stehen noch ganz am Anfang, aber die Inklusionsinitiative, die im Oktober lanciert wird, stellt sicherlich einen guten und wichtigen Anstoss dar.
Bei den meisten Menschen mit Epilepsie spricht nichts gegen eine Fernreise. Mit den notwendigen Abklärungen und Vorbereitungen sollte allerdings frühzeitig begonnen werden. Epilepsie, Medikamente und Fernreisen: Auf was sollen Epilepsiebetroffene achten?
Fliegen mit Epilepsie
Die Bedingungen der Fluggesellschaften für Passagiere mit Epilepsie sind unterschiedlich. Es empfiehlt sich in jedem Fall, ein mehrsprachiges ärztliches Attest mitzuführen. In diesem sollten Informationen wie die verordnete Medikation, Verhaltensregeln für den Notfall und Angaben, ob allenfalls eine Begleitung notwendig ist, enthalten sein. Gelegentlich verlangt eine Fluggesellschaft ein spezifisches medizinisches Zeugnis, welches die Flugtauglichkeit bescheinigt (fit to fly certificate).
Medikamentenvorrat planen
Es ist ratsam, einen ausreichenden Medikamentenvorrat auf die Fernreise mitzunehmen. Dieser sollte im Handgepäck und in der Originalverpackung transportiert werden. Zudem sollten Sie ein mehrsprachiges Arztzeugnis mit sich führen, welches die Notwendigkeit der Medikamente bescheinigt, um Probleme bei der Sicherheitskontrolle zu vermeiden.
Beachten Sie weiter, dass an den Reisetagen wegen der Zeitverschiebung die Tagesdosis der Medikation angepasst werden muss. Dies kann mit einer Formel berechnet werden. Lassen Sie sich bei Unsicherheiten dazu von Ihrem Neurologen / Ihrer Neurologin beraten
Bei Reisen Richtung Westen (Erhöhte Dosis)
= Anzahl der „gewonnenen“ Stunden / 24x Tagesdosis
Bei Reisen Richtung Osten (Verringerte Dosis)
= (24 minus „wegfallende“ Stunden) / 24x Tagesdosis
Schlaf-Wach-Rhythmus auf Fernreisen
Viele Menschen mit Epilepsie reagieren empfindlich auf Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, was bei Fernreisen aufgrund des Fluges und der Zeitverschiebung bedacht werden sollte. Wann immer möglich sollte eine abrupte Umstellung des Rhythmus vermieden werden.
Werden Impfungen für das Reiseziel empfohlen?
Bei Reisen ins ferne Ausland sind häufig verschiedene Impfungen empfohlen. Allerdings gibt es für bestimmte Impfungen (z. B. Malariaprophylaxe) besondere Empfehlungen für Epilepsiebetroffene zu beachten. Auch dies sollten Sie vorab mit dem Behandler / der Behandlerin besprechen.
Wer übernimmt allfällige Behandlungskosten?
Vor der Reise ist es ratsam abzuklären, ob allfällige Behandlungskosten im Ausland von der Krankenversicherung übernommen werden. Je nach Urlaubsziel ist der Abschluss einer Zusatzversicherung empfohlen, allerdings werden Patienten mit Epilepsie leider oft abgelehnt oder nur unter erschwerten Bedingungen versichert. Lesen Sie darum die Allgemeinen Versicherungsbedingungen vor Vertragsabschluss sorgfältig durch.
Broschüre „Reisen und Epilepsie“ der Schweizerischen Epilepsie-Liga
Broschüre „Epilepsie und Schlaf“ der Schweizerischen Epilepsie-Liga
Notfallkarte von Epi-Suisse (in deutsch, französisch, italienisch)
Vorlagen für Fern- und Flugreisen
Sie haben Fragen oder brauchen Unterstützung?
Unsere Mitarbeitenden der Sozialberatung helfen Ihnen gerne.
info@epi-suisse.ch
Tel.: 043 488 68 80
Nachgefragt bei Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH
«DER LEIDENSDRUCK DURCH SOZIALE UND PSYCHISCHE EINSCHRÄNKUNGEN IST SEHR ERNST ZU NEHMEN»
Martin Kurthen, was können neurologische Langzeitfolgen von Epilepsie sein?
Hier muss man unterscheiden zwischen Epilepsien bei Kindern und bei Erwachsenen und zusätzlich auch wieder zwischen Epilepsien mit oder ohne neurologische Grunderkrankung. Wenn die Epilepsie bei Erwachsenen Ausdruck einer anderweitigen Grunderkrankung wie ein Hirntumor oder eine Stoffwechselerkrankung ist, dann sind mögliche Langzeitfolgen in erster Linie durch diese Grunderkrankung bestimmt.
Und wenn keine neurologische Grunderkrankung vorliegt?
Die epileptischen Anfälle als solche gehen in den meisten Fällen nicht mit neurologischen Langzeitfolgen einher und sind nicht wesentlich fortschreitend. Das bedeutet: Bei Epilepsien ohne fortschreitende Grunderkrankung sind keine schlimmen neurologischen Spätfolgen zu befürchten. Mittelbare Langzeitfolgen können sich hingegen durch Komplikationen der Epilepsie im Laufe der Jahre ergeben, zum Beispiel durch Schädel-Hirn-Verletzungen im Rahmen von anfallsbedingten Stürzen.
Gibt es auch erwiesene Langzeitfolgen, ausgelöst durch die Epilepsie-Medikamente?
Unerwünschte Langzeitfolgen durch Epilepsie-Medikamente kommen vor allem bei denjenigen Wirkstoffen vor, die den Stoffwechsel «ankurbeln» und dadurch zu Mangelzuständen führen können. Dabei handelt es sich meist um ältere Medikamente. Andere unerwünschte Nebenwirkungen der Medikamente zeigen sich meist nicht erst im Laufe einer jahrelangen Behandlung, sondern bereits in den ersten Wochen bis Monate einer Therapie. Insgesamt gibt es derzeit rund 30 verschiedene Medikamente zur Epilepsiebehandlung. Das Risikoprofil für die Entwicklung von Beschwerden ist bei den einzelnen Epilepsiemedikamenten sehr unterschiedlich. Wichtig ist: Im Einzelfall muss bei Auftreten neuer Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Epilepsietherapie immer gründlich überprüft werden, ob die Medikamente eine wesentliche Rolle spielen oder ob andere Ursachen den Beschwerden zugrunde liegen.
Was empfehlen Sie ihren Patienten, wenn sie von diffusen Beeinträchtigungen wie Konzentrationsstörungen berichten?
Wenn solche Störungen angegeben werden, ist eine weitergehende Abklärung zu empfehlen, um gegebenenfalls gezielte Gegenmassnahmen zu ergreifen. In einem ersten Schritt muss das Problem näher bestimmt werden. Wir neigen als Betroffene oft dazu, unsere eigenen Einbussen als «Konzentrationsstörungen» oder auch «Gedächtnisstörungen» zu beschreiben, obwohl bei näherer psychologischer Untersuchung das Problem vielleicht in ganz anderen Teilbereichen liegt, wie der Aufmerksamkeitsleistung.
Was hilft in solchen Fällen, um dem Problem auf den Grund zu gehen?
Hier hilft zur Klärung eine standardisierte neuropsychologische Untersuchung weiter, die es erlaubt, Art und Ausmass einer erlebten Störung näher zu bestimmen. Im zweiten Schritt wäre die Ursache der Störung zu ermitteln: Ist die Einbusse einfach ein Symptom der Epilepsie, oder wird sie durch die Epilepsiemedikamente ausgelöst oder besteht gar eine psychische Begleiterkrankung wie eine Depression, die auch die geistige Leistung verschlechtern kann? Oder liegt eine Schlafstörung zugrunde, die dann im Wachzustand zu Leistungseinbussen führt? Erst wenn all dies geklärt ist, kann eine gezielte Massnahme ergriffen werden, welche die individuelle Problemursache berücksichtigt.
Weisen Sie in der Beratung ihre PatientInnen auf mögliche soziale und psychische Langzeitfolgen hin?
Oft erleben die PatientInnen die epilepsiebezogenen sozialen und psychischen Probleme zu Recht als so bedeutend, dass sie diese schon von selbst vorbringen. Andernfalls muss der Arzt oder die Ärztin die Initiative ergreifen und die sozialen Aspekte wie Beruf, Sport, Fahreignung, Familienplanung und Partnerschaft von sich aus ansprechen. Die psychische Verfassung ist bei der Epilepsieerkrankung ein zentrales Thema. Das gemeinsame Auftreten von Epilepsien und beispielsweise Depressionen und Anpassungsstörungen ist sehr häufig. Der Leidensdruck durch das psychische Problem oft sogar grösser als derjenige durch die Anfälle selbst. Als Neurologen müssen wir somit aufmerksam sein, um das Vorliegen psychischer Probleme nicht zu übersehen. Manche Neurologen sind auch psychiatrisch versiert. Da die Fachgebiete in der Medizin heute aber stark spezialisiert sind, plädiere ich dafür, bei psychischen Problemen einen fachpsychiatrischen Rat einzuholen und wenn notwendig eine entsprechende Mitbehandlung zu etablieren.
Haben Sie weitere Empfehlungen für PatientInnen?
Mit der Diagnose ergeben sich viele Fragen für die Betroffenen. Um die Sorgen zu bearbeiten, profitieren PatientInnen und ÄrztInnen von der Möglichkeit, in den spezialisierten Epilepsie-Zentren und bei Epi-Suisse weitere Fachpersonen beizuziehen, vor allem aus dem sozialdienstlichen und psychologischen Bereich.
Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum,
Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie FMH
Text: Christine Walder